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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

stellungnahmen → Es muss nicht sein, wie es ist
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Der Bund für vereinfachte rechtschreibung nimmt stellung

Es muss nicht sein, wie es ist

Zu Matthias Heine, «Warum gibt es das ß, Herr Professor?», Die Welt, 8. 7. 2017

Nachweis unter presse und internet

«Die Gründe [für die rechtschreib­reform] waren nicht sprachlicher Art, sondern politischer Natur.» – Die reform «geht zurück auf An­strengungen in der DDR der siebziger Jahre […]» (Peter Eisenberg in der «Welt» bzw. 2004 im «Tagesspiegel»).

Moses präsentiert die gesetzestafeln

Die Reform hat diese Kon­ventionali­tät un­abweis­bar deut­lich gemacht - man kann vieles auch ganz anders schreiben […]. Die Duden­redak­tion ist nicht un­fehlbar. Genau darum scheint eine er­hebliche Energie­men­ge des Recht­schreib­kriegs zu krei­sen. Die alte Ortho­graphie war ge­of­fenbart, der Ein­griff ist Häresie; eine re­formierte Ortho­graphie müsste wie­der­um Offen­barungs­charakter ha­ben, sonst ist sie Pfusch. Das sucht der gegneri­sche General­stab mit gerade­zu fein­schmeckeri­scher Pedante­rie nach­zuweisen.

Michael Rutschky, Tagesspiegel Online, 26. 8. 2000

Als vertreter des 1924 gegründeten schweizeri­schen Bundes für vereinfachte recht­schreibung kann ich über eine solche engstirnige sichtweise nur den kopf schütteln. In diesem stil geht es nun in der «Welt» vom 8. juli weiter: «Die Sprache ist, wie sie ist.» Ebenso wie Adelung weiss Eisenberg nicht, woher das th kommt (was natürlich geflunkert ist), und will sich deshalb nicht daran ver­greifen. «Jede noch so gut­willige, gutgemeinte Mani­pulation am Gegen­stand hat zu unter­bleiben» (Eisenberg in der FAZ). Wer es doch wagt, soll «sich bekreuzigen und schämen.»

Wissenschaft

Eisenbergs (und Munskes) auffassung von wissen­schaft ist gewiss weise und edel. Aber sie ist nicht von dieser welt. Einerseits ist da die lustige vorstellung, dass jemand dekretieren kann, was zu «unter­bleiben» hat. Ander­seits hindert bekanntlich selbst die ehrfurcht vor der wunder­welt der pflanzen die wissenschaft nicht daran, mit züchtungen (seit 10000 jahren) und sogar gentechnik «ein­zugreifen». Wir müssen allen entdeckern und erfindern der menschheits­geschichte (auch den erfindern der schrift!) dankbar sein, dass sie frech genug waren und sind, sich an dingen zu vergreifen, die sie oft nicht vollkommen verstanden haben. Alles leben ist laut Karl Popper problemlösen durch versuch und irrtum mit fehler­eliminierung. Über «solche gerechte» wie Eisenberg sagte der schweizer schrift­steller Gottfried Keller: Sie «werfen keine laterne ein, aber sie zünden auch keine an, und kein licht geht von ihnen aus». Dazu haben wir in bezug auf die recht­schreibung (und auch in bezug auf die sprache) ein psychologi­sches problem, das der englische wissenschafts­autor Matt Ridley so formulierte: «Ich zitiere in meinem Buch den englischen Politiker und Historiker Thomas B. Macaulay, der schon Mitte des 19. Jahr­hunderts eine Frage stellte, auf welche die Schwarz­maler aller Zeiten keine Antwort haben: Warum sehen wir, wenn wir zurück­blicken, nichts ausser Fortschritt und Verbesserungen, erwarten aber von der Zukunft immer nur den Nieder­gang?»

Eisenberg stellt diejenigen, die er "Schul­ver­treter" nennt, als un­vernünftige Mani­pula­toren an dem dar, "was ist, wie es ist". Aber die Recht­schreibung ist nicht natur­wüchsig, wie sie Eisen­berg pro­pagiert, son­dern ein komp­li­ziertes Ge­flecht aus Re­gel­mäßig­keiten, Kon­ventio­nen und ge­setz­ten Nor­men. Am Set­zen neuer Nor­men hat sich Eisen­berg selbst fleißig be­teiligt.

Jakob Ossner, FAZ, 24. 4. 2009

Nun ist ja die schrift ein bisschen weniger alt als die pflanzen; die menschen haben sie nicht vorgefunden, sondern gemacht. «Die Schrift ist ein Artefakt, und das bedeutet, eine Schrift kann gut oder schlecht sein, was man von einer Sprache nicht so ohne weiteres würde sagen wollen» (Florian Coulmas). Sie ist konvention, nichts weiter. Sie ist unter anderem auch dafür gemacht, gelernt zu werden. Die konvention kann zum beispiel darin bestehen, dass man zwei sorten buch­staben verwendet oder nur eine (wie in den semitischen und den indischen sprachen einschliesslich jiddisch), dass man eigennamen gross­schreibt oder substantive oder irgendwas. In diesem zusammen­hang das sprach­gefühl zu bemühen, ist sehr gewagt. (Das sprach­gefühl zu bemühen, ist an sich schon gewagt.) Die leute sollen also in ihrem sprach­gefühl verletzt sein, wenn die schreib­regeln in fällen wie «im Allgemeinen» nicht jede grammatikalische nuance nach­vollziehen? Nun ist es ja verständlich, dass der ober­grammatiker der nation annimmt, dass die leute beim sprechen und schreiben in erster linie an die grammatik denken. Aber ist es realistisch? Und ist es wünschens­wert? Eher ist anzunehmen, dass die menschen gar nie zu sprechen begonnen hätten, wenn damit die notwendigkeit einer permanenten wortarten­bestimmung verbunden gewesen wäre. Was «die leute» im einzelnen «empfinden», zeigen uns die fehler­statistiken. Nur ein drittel weiss, wie man «Rhythmus» schreibt. Was sie allerdings angeblich nicht daran hindert, zu 90 prozent gegen die neue recht­schreibung zu sein. So ist das mit den leuten. Schon Bertolt Brecht klagte: «Alle grossen ideen scheitern an den leuten.» Und Ludwig Börne: «Eine schimpfliche Feigheit, zu denken, hält uns alle zurück. Drückender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt.»

Einheitlichkeit

Eine zweite Art Feinde [der Neu­regelung] sind die Hüter der Ein­heitlich­keit. Sie finden sich vor allem in unserem nörd­lichen Nachbar­land. Da liest man bei­spiels­weise, dass erst 25 Prozent der Deut­schen die neue Recht­schreibung an­wenden. Erst? Wo doch höchs­tens 5 Prozent der Be­völkerung dazu an­ge­halten sind, sich an die amt­liche Recht­schrei­bung zu halten. Da kann man nur sagen: schon 25 Pro­zent! […] Er­innern wir uns an unsere Gross- und Urgross­eltern, die noch mit der Süt­terlin-Hand­schrift gross ge­wor­den sind. Haben diese von ei­nem Tag auf den andern zur neuen Schreib­schrift gewechselt? Na­türlich nicht, und das war auch recht so.

Peter Gallmann,
Tages-Anzeiger (Zürich), 28. 9. 2000

So wissenschaftlich wie das mit den leuten klingt auch das loblied auf die ein­heitlichkeit: «Die Ein­heitlichkeit ist das Ent­scheidende.» In Deutsch­land ist dieser glaube weit verbreitet; er verleitet das «Hamburger Abendblatt» zur absurden aussage: «Leider darf das Abendblatt sich nicht die Freiheit nehmen, anders zu schreiben, als es in der Schule gelehrt wird.» Es will nicht (warum «leider»?), aber selbst­verständlich darf es. Einheit­lich­keit ist gut, und man soll sie anstreben, aber sie ist eine sekundär­tugend. Abgesehen davon, dass sie auch vor der reform nicht so ganz verwirklicht war, kann sie nie und nimmer das ziel sein, weder bei der recht­schreibung noch sonstwo. Ziel ist das bessere. So wird die Schweiz weder ihre ein­fachere s-schreibung aufgeben noch z. b. ihre besseren strom­stecker. «Die Forderung nach völlig lücken­loser Uniformität der Schreibung ist keines­wegs zwingend; im Bereich der schönen, auch der wissenschaftlichen Literatur, erheben sich sogar sehr ernsthafte Einwände gegen eine orthographische Einheits­tyrannei.» (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, 1964.) Und der staats­rechtler Daniel Thürer stellt fest: «Die Ein­heitlichkeit des Sprach­gebrauchs ist als Grundwert weniger gewichtig als die persönliche Freiheit. Das gilt auch für die einheitliche Schreib­weise.»

Einfachheit

Es erstaunt auch nicht, dass Eisenberg unter einfachheit etwas anderes versteht als andere. Der Bund für ver­einfachte recht­schreibung sieht es wie die Basler Zeitung: «Regeln sind dazu da, um sie zu vereinfachen. Die Eleganz eines Regel­werks ist eine Funktion seiner Schlankheit. Und die Vereinfachungs­fähigkeit von Schreib­regeln ist zumindest a priori nicht aus­zuschliessen.»

Die men­schen ver­driesst's, dass das wahre so ein­fach ist.

Johann Wolf­gang von Goethe

«Eine Rechtschreib­reform verfolgt im Grunde zwei miteinander verbundene Ziele, nämlich erstens die Orthographie zu systematisieren, d. h. Ausnahmen zu beseitigen, und zweitens die Ortho­graphie an den erreichten Stand der Sprach­entwicklung anzupassen. Beides bedeutet eine Ver­einfachung der Schreibung.» Das sagte der sprach­wissenschafter Wolfgang U. Wurzel, und er mahnte: «Wenn man nach­vollziehen will, was eine Rechtschreib­reform bedeutet und was nicht, so ist es zunächst einmal notwendig, zwischen der Sprache selbst und ihrer schriftlichen Wiedergabe, d. h. ihrer Ortho­graphie, zu unter­scheiden. [...] Eine Veränderung der Recht­schreibung bedeutet damit keinen unzulässigen Eingriff in die Sprache, wie es von Gegnern jeder Rechtschreib­reform immer behauptet wird.» Offen­sichtlich sind nicht alle linguisten gleicher meinung. Das ist normal; nicht normal ist, dass sich die einen bekreuzigen und schämen sollen. Dazu passt ein seufzer eines wissenschafters in der «Welt», man muss nur klimatologen durch linguisten ersetzen: «Die Klimaforscher sind in einem Dilemma: ‹Wir erscheinen wie Anwälte mit festgelegten Positionen›, klagt Hansen [vom Goddard-Institut der Nasa]. Dabei revidieren Klimatologen ihre Ergebnisse ebenso häufig wie andere Forscher. Doch unter diesem selbst­verständlichen Prozeß leidet die Glaubwürdigkeit der Klimatologen. Schuld daran sind nicht nur die Medien mit ihrer Neigung zur Zuspitzung. ‹Wir haben es versäumt, der Öffentlich­keit klarzumachen, daß Wissenschaft vom Widerspruch lebt›, räumt Hansen ein.» Nun wird ja niemand den klimatologen vorwerfen, sie verstünden nichts vom wetter. Den linguisten bleibt aber auch das nicht erspart. Ernst Gottfried Mahrenholz, deutscher ex-verfassungs­richter («Die Welt» vom 13. 7. 2005): «Die Linguisten verstehen nichts von Recht­schreibung.»

Linguisten

Es gibt linguisten, die etwas von recht­schreibung verstehen, aber da ist ja das genannte dilemma. Der linguist Gerd Simon formulierte es 2004 so: «Meine Position in der Rechtschreib­frage wurde in der Geschichte offiziell selten vertreten, weil wer sie vertritt, das Problem normaler­weise rechts liegen lässt.» Das erinnert an Bertrand Russel: «Es ist ein jammer, dass die dummköpfe so selbstsicher sind und die klugen so voller zweifel.» (Und an Matthias Heine: «Das Thema zieht Käuze an.») Simons position «setzt beim Leser ein und wendet sich gegen alle über­flüssigen Normierungen. Erwachsene, die sich einiger­maßen ver­ständlich aus­zudrücken verstehen, können auch leicht und schnell erfassen, was gemeint ist, wenn jemand – wie der Schrift­steller Matthias Köppel – ‹hollundische Totumauten› statt ‹holländische Tomaten› schreibt. Einen Maßstab für ver­ständliches Schreiben und damit eine Reform braucht man nur für Lernende (Kinder und Ausländer), wobei es zugleich Aufgabe der Lehrer sein sollte, Toleranz gegenüber abweichenden Schreib­weisen einzuüben. Und da ist es eher sinnvoll, alles möglichst leicht erlernbar zu gestalten, als sich am Geschmack einzelner zu orientieren, selbst wenn sie Thomas Mann oder Günther Grass heißen. Das ist eine Kritik an allen drei Richtungen, die es seit dem 19. Jahrhundert in dieser Frage gibt, nicht nur an den Rechtschreib­reformern […], sondern auch an den Traditionalisten […]. Meine Hauptkritik trifft aber den Marginalismus aller drei Richtungen, jene Kombination aus Nebensachen­kult, Eng­stirnigkeit, Chaos-Angst und Dog­matismus. […] Wir brauchen für Lernende (Kinder, Ausländer) eine leicht erlernbare Schreibweise. Darauf und auf die Rolle wissen­schaftlicher Beratung in Sachen Ver­ständlichkeit sollten sich Rechtschreib­kommissionen beschränken. Es ist nicht die Aufgabe wissen­schaftlicher Berater, Konzessionen zu machen, die wissen­schaftlich nicht vertretbar sind (Beispiel: ‹Der Heilige Vater.›). […] Ansonsten ist die An­gelegenheit es nicht wert, dass man derart aus einer Mücke einen Elefanten macht.»